Was wollen wir uns leisten?
Wie ist dein Verhältnis zur «Leistung»? Bist du gespalten, wohnen ach zwei Seelen in deiner Brust? Oder leistet du dir zur Leistung gar keine eigene Meinung?
Der Kapitalismus (und zuvor der Protestantismus) hat in unserer kulturellen DNA den Glauben eingebrannt, dass ein wertvoller Mensch nur ist, wer viel leistet und fünfzig Arbeitsjahre lang zum Bruttoinlandprodukt beiträgt. Leistung heisst Produktionssteigerung: Immer mehr Leistung pro Zeiteinheit. Wie das die Fliessbandarbeit anschaulich zeigt: Mit der Stoppuhr gemessene Zerstückelung der Arbeit in einzelne Schritte. Eingeführt vor hundert Jahren von Henry Ford in der Automobilindustrie, um mehr Autos pro Tag zu produzieren. Der Arbeiter als Teil der Maschine.
Dieses Leistungsmaximierungs-Denken zeigt sich in extremis im Spitzensport, der immer mehr leistet, egal wie viel Gesundheit es die Sportler kostet. Kaum ein Rekord, der älter als ein paar Jahre ist. Ranking ist Markt und treibt absurde Preisgeld-, Korruptions- und Dopingblüten wie etwa beim Tennis, im Fussball oder beim Radsport. Was im Sport Federer und Messi, sind in der Tech-Branche Facebook, Amazon und Google. Vor allem Google ist Marke gewordenes Synonym für cool, innovativ und erfolgreich, das heisst, mit Höchstleistung auf Marktmacht getrimmt.
Die Erfindung der Leistung
Und wir - Engagierte der Zivilgesellschaft - sind mit dieser Art Leistungsdenken aufgewachsen, kritisieren es aber gleichzeitig, das heisst, wir sind gespalten. Wir sehen zwar die Problematik des immer-schneller-und-mehr und wenden es trotzdem, bewusst oder unbewusst, selber an.
Diesen Zwiespalt leuchtet die Historikerin Nina Verheyen in ihrem Buch «Die Erfindung der Leistung» fundiert aus. Sie zeichnet darin nach, dass der Begriff der Leistung erst vor zweihundert Jahren eingeführt wurde und er damals für eine Leistung zum Wohle der Gesellschaft stand. Mit der industriellen Revolution wurde der Begriff «physiologisiert», das heisst, von der Physik, wo Leistung als Arbeit pro Zeiteinheit gemessen wird, auf die Physiologie übertragen. Weil man sich vorstellte, dass der Mensch physiologisch wie eine Maschine funktioniere und somit seine Leistung messbar sei. Wie im Sport: 100 Meter in 10 Sekunden. Verheyen zeigt indes auf, dass sich Leistung nicht wie ein Gewicht oder eine Temperatur messen lässt, sondern es immer eine subjektive Beurteilung einer Handlung ist und somit eine Fiktion sei, Leistung objektiv messen zu können.
Solches «maschinenartige» Leistungsdenken zeitige erhebliche Schattenseiten, so die Forscherin weiter. Es schwäche die Resilienz und könne zu Depressionen und Burnout führen. Stress werde zunehmend als Belastung erlebt, was nicht reiner Leistungsdruck sei, sondern ein Mix aus besagter kultureller DNA, Profitstreben und dem Zwang zur Selbstoptimierung.
Selber gefangen im Hamsterrad
Dieser Kritik stimmen wir wohl im Wesentlichen auf der einen Seite zu. Doch auf der anderen Seite der Spaltung sind auch wir infiziert davon, dass Leistung aus individueller Anstrengung resultiere. Wir sind selber auf Leistung getrimmt. Das Gefühl, etwas leisten zu müssen (und zu wollen), um «etwas» zu erreichen, ist in engagierten Kreisen grundlegend. Und Antrieb für den Kampf gegen Umweltzerstörung und den Widerstand gegen das Übel «Neoliberalismus». Mit Verve und Engagement. Bis hin zum Burn-out oder zur Rücksichtslosigkeit gegenüber Kolleg*innen. So sind denn Menschen, die meinen, die Weltrettung hänge von ihnen beziehungsweise ihrem Kampagnen- oder Aktionsvorschlag direkt und unmittelbar ab (siehe Kolumne «Prioritäter»), gar nicht so selten anzutreffen.
Trödler, Nachdenkliche, Zuhörende, Ausprobierer und Träumerinnen stören tendenziell. Auch in NGOs. Diese seien schliesslich keine geschützte Werkstatt. Richtig. Und dennoch gilt es dieses «physikalische» Leistungsverständnis, das auf Quantität abzielt und nicht auf Menschen ausgerichtet ist, zu hinterfragen. Denn eine effektive Organisation ist nicht primär eine effiziente Maschine, sondern ein vitaler Organismus.
Die Omnipräsenz des Kapitalismus-Prinzips
Der Kapitalismus scheint uns gegen unseren Willen sein Verständnis von Leistung zu oktroyieren. Wir haben uns daran gewöhnt, Zeit weniger in Reflexion und vor allem ins Beschäftigtsein mit dem Problem oder mit dem Gegner zu investieren. Der, nota bene, tausend Mal mehr Geld hat als wir, was es ihm oft leicht macht, uns beziehungsweise unsere Argumente und Kritik zu überfahren oder auf Zeit zu spielen. Und um diese Ressourcen-Differenz wettzumachen, meinen wir, uns umso mehr einsetzen und anstrengen zu müssen ... Wie die Leistungsgesellschaft legen wir Wert auf Leistungsbereitschaft, Performance-Management, Innovation und so weiter. Leistung wird heimlich und unheimlich über den eigentlich gleichen Leisten «immer mehr, immer schneller» geschlagen. Wir folgen so oft dem kapitalistischen Prinzip, Qualität sei in erster Linie als Quantität pro Zeiteinheit, und setzen auf «Zeiteffizienz» sowie ein quantifizierbares kurzfristiges «Return on Investment».
Doch es scheint, als ob uns solches eher darin behindert, die Leistung zu vollbringen, für die wir angetreten sind: Nämlich grundsätzliche gesellschaftlich Änderungen zu erreichen. Und es würde sich die Frage stellen, wie können zivilgesellschaftliche Organisationen im kapitalistischen Umfeld ein Leistungsverständnis leben, das dem ursprünglichen Sinn der Leistung - nämlich «Steigerung des Gemeinwohls» entspricht? Wie aus dem Hamsterrad des immer-mehr ausbrechen? Wie kann der Mindset-Shift von «Human Resources» zu «Human Relations» geschehen? Denn gute Leistungen im ursprünglichen Sinn erbringen vor allem gute, emotional geerdete Teams in einer vitalen Organisation.
Unser Autor
Arbeitet seit drei Jahren als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz.
Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, arbeitet nun als Humanökologe, Lernspezialist sowie auch Schriftsteller. Neben Kolumnen schreibt er vor allem Gedichte und Aphorismen. Seine letzten Veröffentlichungen sind “Im Rosten viel Neues” (Gedichte, 2016) sowie “Aussicht von der Einsicht” (Aphorismen, 2018). Mehr unter https://prolyrica.ch/b-b/kuno-roth.