Zugangsbeschränkung beim Lebensmittelgrossverteiler

Campaigning nach Corona

Die Welt ist von einem Virus in Beschlag genommen. Covid-19. Wie Science Fiction. Surreal. Und doch real. Real vor allem auch als hohe Belastung für Menschen in der Grundversorgung, aus Risikogruppen und insbesondere in den armen Ländern. Der ausführlichen Berichterstattung darüber kann ich nichts hinzufügen. Ausser vielleicht die Frage, warum die Gesundheitsbehörden nicht stärker kommunizieren, was getan werden kann, um das eigene Immunsystem zu stärken und die Symptome zu mindern. Mit einfachen Massnahmen, wie für genügend Vitamin C und D zu sorgen oder die Atemwege zu pflegen, die dazu beitrügen, das Gesundheitssystem zu entlasten.

Hier folgen Gedanken darüber, ob in dieser schweren Krise nicht auch die Aufforderung zum Einhalt und die Chance für eine nachhaltige, gesunde Transformation stecken. Thema dieser Kolumne ist dabei nicht primär die Forderung, dass die staatlichen Hilfsprogramme grün und gerecht sein sollen, was wichtig und richtig ist (und wozu es viel Material gibt, z.B. diese Studie). Sondern vielmehr das Zwischenmenschliche, das Ansätze zu einer Transition aufschimmern lässt. Corona zeigt unsere Verletzlichkeit, die Fragilität der Erde, die gegenseitige Abhängigkeit, positiv wie negativ. 

Ich nehme an, der «medizinische Teil» der Krise wird in absehbarer Zeit dank Impfstoff, Medikamenten und Vernunft überwunden sein. Doch was kommt dann? Tritt ein, was viele befürchten, dass das Ganze nur ein Spuk gewesen ist und man zur vorherigen Normalität der Übernutzung unter Verstärkung von Nationalismus und Ausgrenzung zurückkehrt? Oder kommt die Hoffnung zum Tragen, dass «erlebte Einsicht» zu einer gesellschaftlichen Transformation führen wird? Denn es scheint, dass das Virus vielen auch Entschleunigung bringt und zwischenmenschliche Werte* aus dem Keller hervorholt: Dachterassenkonzerte, Applaus von den Balkonen, Kunstschaffende lesen online und musizieren vor Altersheimen, grüssende Menschen im Wald, alte UND junge Menschen am Spazieren. Keine Frage, medizinischer Fortschritt hilft, mit der Krise fertig zu werden, aber mindestens ebenso sehr helfen solche Veränderungen sozialer Normen. 

Atempause

Wegen dem Sandkorn im Getriebe macht die Wirtschaft Atempause; der Atem wird zum Glück wieder kommen. Doch vielleicht wird sie fortan etwas anders atmen, ihr Puls nicht mehr so rasen: Der globale Finanzkapitalismus und alte Abhängigkeiten werden hinterfragt, die interkontinentale Mobilität büsst an Reiz ein - aus verminderter Quantität wächst Qualität. Zwang lässt paradoxerweise auch Lust wachsen. Das, was zuvor mit Verzicht verbunden schien, stellt sich als «ja gar nicht so schlimm» heraus, wird zu einem Teil als wohltuend erlebt. Plakativ gesagt: Aus der Not, nicht mehr fliegen zu können, wird die Tugend geboren, das nahe Umfeld spazierend, joggend und radelnd zu erleben. Das macht resilienter**: Natur tut gut; die Resilienz zwitschert einem gewissermassen aus dem nahen Wald entgegen.

Nach dem Prinzip Hoffnung könnte man aus zivilgesellschaftlicher Sicht fragen: Sehen wir da den «Verzicht-nimmt-nicht-Verzicht-gibt»-Effekt? Kommt Menschlichkeit doch vor dem Markt? Merken tatsächlich viele Menschen, dass es neben Rennen, Arbeiten, Multitasking, Weiter-Höher-Mehr auch noch Leben gibt? Und wenn ja, wird das nachhaltig sein? 

Hoher Preis für gute Öko-Bilanz

Gleichzeitig lässt sich die «Öko-Bilanz» der Krise sehen. Was Umweltorganisationen seit Jahrzehnten versuchen, schafft das Virus in Wochen: Eine gewaltige CO2-Reduktion, über 30% weniger Verkehr, Megacities ohne Smog, blauer Himmel über Peking – «Campaignerin Corona» macht es möglich. Freilich eine etwas unheimliche Campaignerin, erbarmungslos und opferbereit: Hunderttausende von Toten. Setzt man die Zahl in Relation mit menschgemachten Risiken, die wir als Kollateralschäden hinnehmen, relativiert sie sich allerdings: Jährlich sterben über zehn Millionen Menschen an Kreislauf-Krankheiten, drei Millionen an Lungeninsuffizienz (z.B. Grippe), 1,6 Millionen an AIDS, 1,3 Millionen im Verkehr. Ganz zu schweigen von den Millionen Toten, die Hunger, Dengue, schlechte Luft und Malaria fordern.

Die Kraft der «Öko-Bilanz» machen nicht nur die Zahlen (z.B. Tonnen CO2), sondern vor allem das Erlebnis aus: keine Kondensstreifen am Himmel zu sehen, kein Lärm am Abend zu hören, wohl aber die Ruhe des Waldes und das Zwitschern der Vögel.

Angst schüren wäre Kurzschluss

Was jetzt für die Kampagnenarbeit naheliegend scheint, aber bedenklich wäre zu tun, ist Klimaangst zu schüren. Nämlich also aus der Tatsache, dass mit permanenter Medienpräsenz, Fallzahlen und «Body Counting» den Menschen Angst gemacht wurde und sie so zu Verhaltensänderungen gebracht worden sind, zu schliessen, man müsse, um klimaschädliches Verhalten zu bremsen, den Leuten halt auch etwas Furcht einflössen. Das wäre ein Trugschluss. Weil Angst nur dann ein guter Ratgeber ist, wenn durch die Verhaltensänderung die Risiken unmittelbar abgewehrt werden können. Bei Covid-19 funktionierte das ja recht gut: Isolation und Hände waschen nützte ziemlich schnell; die Zahl der Neuinfizierungen sank schon bald.

Klimagerechtes Verhalten dagegen bringt leider keine unmittelbare Verbesserung. Gäbe es einen Klima-Lockdown, würde der CO2-Ausstoss zwar dramatisch gesenkt, doch die Klimaveränderung ginge genau gleich weiter, weil die Atmosphäre ein sehr träges System ist: Was wir heute tun, merken wir erst in zehn bis zwanzig Jahren. Ein solcher Lockdown würde im Gegensatz zu den Covid-Massnahmen nicht getragen, weil keine unmittelbaren Wirkungen festzustellen wären (weniger Smog ist keine Klimawirkung). Wie gesagt: Nur wenn der Verzicht nicht als Verlust sondern als Gewinn erlebt wird, wird Veränderung dauerhaft. Mit einigen harten Massnahmen etwas nachzuhelfen, wäre selbstverständlich nützlich. 

Soziale Innovationen - das Zauberwort

Doch weil Konsum - Opium fürs Volk – wie eine Droge wirkt, ist die Gefahr eines Rückfalls nach einem (Teil-)Entzug gross. In Analogie zur Drogentherapie, in der stützende Massnahmen eingesetzt werden, um Süchtigen zu helfen, nach dem Entzug - eine Art «Lockdown» - clean zu bleiben, könnten Organisationen der Zivilgesellschaft hier ansetzen: Nämlich in einer breiten Zusammenarbeit die Transition unterstützende Massnahmen, wie sie jetzt aufschimmern, weiter entwickeln, ausprobieren und verbreiten - das heisst, diese grassierende Zwischenmenschlichkeit weiter grassieren und zu einer Transition anwachsen zu lassen, in der sich Menschen lebensfreudig dem «Weniger-ist-mehr» widmen. Dem «Buen Vivir»: Das «gute Leben» mit Generationen-Solidarität, Nachbarschaftsstärkung, ökosozialen Siedlungen, Nudging-Kampagnen, sozialkontaktfördernder Kunst***, Naturerlebnissen, Achtsamkeit und nachhaltigem Wirtschaften fördern. Uns mit sozialen, statt mit technischen Innovationen für die andere Zukunft rüsten - so wie es ein Forschungsprogramm des Nationalfonds fordert (siehe “Bund”, 15.4.20). Es geht um eine Kulturänderung, eine im Sinne des «Small is beautiful».

Freilich, der Rückbau wird kosten: Umschulungen von Flugpersonal und Ölraffinerie-Angestellten, Relokalisierung von Produktion, Transformationskrediten für Firmen und so weiter. Finanziert werden könnte er mit einer Reichtumssteuer, so würden Gewinne aus Übernutzung rückgeführt (siehe dazu WOZ, 1.4.20). Ohne dass jemand leiden müsste: Wer zwanzig Milliarden hat und 16 abgeben muss, hat immer noch vier und muss nicht wirklich bedauert werden. Man fragt sich sowieso, nota bene, warum beim Brand der “Notre Dame” Milliardäre sofort bereit waren, hunderte von Millionen zu spenden, aber offenbar nicht beim Corona Flächenbrand.

Die Welt wird anders sein

Ich glaube nicht, dass die Welt bald wieder so sein wird, wie sie war. Sie wird anders sein. Wir werden anders leben. Vielleicht finden wir den Dreh, die Richtung zu wechseln. In jener, in der wir bis vor Corona rasten, gibt es keine Zukunft, nur Abgrund. Die Selbstregulierung des Marktes, die viel beschworene unsichtbare Hand, die alles richten sollte, darf uns nicht mehr so fest im Griff haben.  Die Zivilgesellschaft ist gefragt und gefordert.

PS: Und Klima ist ja nicht das einzige, was uns kümmern sollte. Genauso die Biodiversität, gerade in Zeiten von Covid-19, ist doch davon auszugehen, dass die Lebensraumeinschränkung von Wildtieren es wahrscheinlicher macht, dass Viren von Wildtieren auf Menschen übertragen werden. Pandemien seien das Resultat der Dinge, die der Mensch der Natur antun - wie ein lesenswerter Artikel in der New York Times vom Juli 2012 darlegt: The Ecology of Disease

 

* Das Phänomen der Entschleunigung beschränkt sich primär auf den privilegierten globalen Norden. Für den Süden wird die Corona-Krise die bestehenden Krisen und Schwierigkeiten (z.B. Armut) leider verstärken. Nicht nur im globalen Süden, auch in der westlichen Welt, allen voran in den USA, sind Millionen von Menschen in ihrer Existenz bedroht. Dennoch: Entschleunigt sich der Norden, hälfe das den Menschen generell. Zudem: Der zwischenmenschliche Wert «Solidarität» hat eine trügerische Seite, nämlich die Ausgrenzung, z.B. wenn die Solidarität an der Landesgrenze Halt macht.

** Resilienz bedeutet, Stressoren des Berufs- und Privatlebens mit inneren und äusseren Ressourcen zu mildern. Z.B. die Fähigkeit Emotionen zu regulieren, wäre eine innere, Sozialkontakte eine äussere Ressource (die ausserdem das Immunsystem stärkt).

*** Kunst hat vielfach stärkende Wirkung, sie erhöht die Lebensqualität, beruhigt und fördert Resilienz (psychologie heute, 05/2020)

 



Kuno Roth

Unser Autor

Arbeitet seit drei Jahren als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz. 

Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, arbeitet nun als Humanökologe, Lernspezialist sowie auch Schriftsteller. Neben Kolumnen schreibt er vor allem Gedichte und Aphorismen. Seine letzten Veröffentlichungen sind “Im Rosten viel Neues” (Gedichte, 2016) sowie “Aussicht von der Einsicht” (Aphorismen, 2018). Mehr unter https://prolyrica.ch/b-b/kuno-roth.

Kuno Roth