Von der Theorie zur Praxis des Wandels
Die Praxis der Theorie
Die Theorie des Wandels (Theory of Change ToC) ist mittlerweile ein fester Bestandteil der Kampagnenplanung geworden. Kurz gesagt, zeigt eine bestimmte “Theorie des Wandels” warum und wie die gewünschten Resultate einer Intervention oder einer Serie von logisch verknüpften Aktivitäten erhalten werden. Die ToC ist ein systematischer Planungsprozess (das Wie) und ein spezifisches Wirkungsmodells (das Warum), das aufgrund früherer und ähnlicher Praxis voraussagt, wie die Aktivitäten zielführend wirken. Wichtig ist dabei, sich über Annahmen, Voraussetzungen und Ziele zu einigen und die Indikatoren für deren Messung festzulegen.
Laut Wikipedia ist der Begriff Mitte der 1990er Jahre aufgekommen, als Folge der Wirkungsforschung in der Entwicklungszusammenarbeit und im Gesundheitswesen, also dort, wo realer sozialer Wandel die Absicht der Akteure war. Es war dann das New Yorker Aspen Institute, das sich der Sache annahm und den Ansatz verbreitete. Nötig wurde er, weil die Wirkungsforschung zeigte, dass die bis anhin vorherrschende naturwissenschaftlich-technische Sicht von Entwicklung und Wirkungsmessung die «Komponente Mensch» in sozialen Systemen zu wenig berücksichtigte und deshalb nicht sehr erfolgreich war. In der Folge fanden psychologische, soziologische sowie politologische Einsichten, wie z.B. die Bedeutung des Machtgefüges («Power Dynamics») zunehmend Beachtung und führten zum multidisziplinären Theory of Change-Ansatz.
Beispiel »Torte backen»
Eine ToC kann im Prinzip für einen Infostand, eine Weiterbildung, ein Programm oder eine Kampagne bis hin zu einer Organisationsentwicklung eingesetzt werden. Die ToC ist eine Planungsmethode und besonders geeignet für komplexe Projekte. Da Campaigning im Prinzip ja darauf abzielt, “etwas Neues oder Fremdes jemandem schmackhaft zu machen” die Sache am Beispiel «eine neue Art Torte mit Kohl» erläutert: Am Anfang steht das Projektziel, also eine Torte mit der neuen Zutat Kohl so zu backen, so dass sie ‘möglichst vielen’ schmeckt. Von dort denkt man rückwärts. Anhand bestehender Torten-Rezepte und eigenen Back-Erfahrungen bestimmt man Voraussetzungen und Zwischenziele, die man als Meilensteine auf dem Weg zum Projektziel zwingend erfüllen muss. Also etwa die Zutaten, das Budget und die nötigen Geräte als Ressourcen, um die Voraussetzungen zu erfüllen und z.B. «der Teig ist geschmeidig» als Zwischenziel. Sodann überlegt man sich, welche Indikatoren es gibt, die das Gelingen des Projektes anzeigen: Ein Geschmackstest des Rohteiges oder die Farbe der Torte, die man per Blick in den Backofen erfasst. Schliesslich stelle man sich vor, die Torte würde hundert Gästen am «Tag des Kohls» serviert. Dann wäre man gut beraten, mit Test-Torten zu beginnen - und sich selber nicht als einzigen Massstab des guten Geschmackes zu nehmen, also z.B. sowohl einige Kohllobbisten wie auch Kohlkritische an den Tests partizipieren zu lassen.
Nix Betty Bossi
Nun ist das gesellschaftliche Backen unendlich schwieriger, nix Betty-Bossi. Das Beispiel zeigt dennoch die zentralen Elemente: 1. Die Annahmen, von welchen man ausgeht, z.B. dass die Zutaten in genügend guter Qualität erhältlich sind. Im gesellschaftlichen Kontext stellt sich die Frage, welche Annahmen müssen bzw. können überprüft werden und auf welche einigt man sich. 2. Die Indikatoren: Was zeigt am besten die Qualität des Prozesses und die Annäherung an die Projektziele an? Die Ofentemperatur? Nur weil sie einfach zu messen ist, ist sie vielleicht noch nicht ausreichend. 3. Partizipation und praxisnahes Lernen beim Testen, das erlaubt, sich laufend zu verbessern, so dass am Schluss die Torte den Zielgruppen schmeckt.
Im Campaigning besagt die ToC, wie sich ein*e Campaigner*in die angestrebte Veränderung vor dem Start einer Kampagne vorstellt. Und zwar aufgrund von Erfahrungen – eigener und anderer -, Recherchen und explizierten Annahmen. Das Feld wird also abgesteckt, Vision, Ziele und Zwischenziele bestimmt. Auf dieser Grundlage legt man sich eine Richtschnur zurecht, die zu einer Verbesserung einer als ungut empfundenen Situation führen soll. Das ist die Strategie. Sie ist die Wegbeschreibung zur Vision oder dem übergeordneten Ziel. Oder besser: Sie gibt beim Start den Rahmen und die Stossrichtung vor. Sie ist eine Annahme und gibt eine erste Bewertung (die übrigens bewusst oder unbewusst von der eigenen Weltanschauung und persönlicher Emotionen geprägt ist).
Sensibel für Nebeneffekte
So weit so klar und einfach, schwierig wird es in der Praxis bzw. wenn man das Modell - entgegen dessen Intention - als mechanisches Umsetzungstool verwendet. Die Theory of Change ist nur dann gute Grundlage für Kampagnen, wenn sie kontinuierlich evaluiert und angepasst wird. Es gilt Rückkoppelungs- und andere Nebeneffekte, erwünschte und unerwünschte, im Auge zu behalten und eine Sensibilität dafür zu entwickeln.
Es ist eine schier unmögliche Kunst, die «richtigen» Annahmen zu treffen, die Praxis zu beobachten, Nebeneffekte zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren. Folglich ist es nicht nur wichtig, von einer wohl überlegten ToC auszugehen. Entscheidend ist auch, dass man sie beim Umsetzen regelmässig überprüft, ein Gefühl für die Sache entwickelt und immer wieder die Strategie anpasst (ein Versuch, das zu machen, kann aktuell in der Coronakrise beobachtet werden).
Für eine gute Praxis braucht es neben Technik, Psychologie, Geld und einem Team vor allem auch eine systemische Sicht und ein dialektisches Verständnis. Mit anderen Worten: Iterativ, Schritt für Schritt, von einer Theory zu einer Practice of Change kommen.
Tunnelblick vermeiden
Eine Kampagne mäandert wie ein Fluss. Um ihre Wirkungen zu optimieren, gilt es manchmal Meilensteine oder auch ein Ziel anzupassen. Damit sind nicht Opportunismus und die Aufgabe von Werten gemeint, sondern Realitätssinn. Ein kniffliger Begriff. Gemeint ist der Fall, wenn man einen realen Kompromiss als wertvoller einschätzt als theoretisch Recht zu behalten. Dies richtig einzuschätzen, ist ein Dauerdilemma all jener, die die Welt verändern wollen.
Damit das Dilemma aber nicht lähmt, z.B. dadurch, dass man sich realitätsfremd an einem Ziel festbeisst oder der Tunnelblick einem die Wahrnehmung trübt, braucht es einen Entscheid darüber, wie sehr man sich den Realitäten anpasst. Dieser ist stets schwierig, sonst wär’s kein Dilemma. Um zu entscheiden, ob z.B. ein Kompromiss gut oder jedenfalls besser als die Aufrechterhaltung der «reinen Lehre» ist, erachte ich das «Potenzial der Beteiligung» als einen der wichtigsten Kriterien. Also einen Kompromiss in der Richtung zu erarbeiten, in welcher die Energie der angesprochenen Zielgruppen zeigt und auch Nichtüberzeugte einlädt, sich zu beteiligen. Das Risiko ist dabei, einen faulen Kompromiss einzugehen. Andererseits bergen repetitiv vorgetragene Ziele die Gefahr zu langweilen - die Praxis muss geändert werden, nicht die Theorie wiederholt.
Für solche Entscheide, also inwieweit man von der reinen Lehre abweicht, gilt es zudem zu beachten, dass eine Intervention in ein System, was eine Kampagne ist, nie nur eine Wirkung hat. Einige Nebenwirkungen oder paradoxe Effekte können vorhergesehen werden, andere treffen einem unvorbereitet. Darauf in geeigneter Weise reagieren zu können, bedarf der Bereitschaft, aus Erfahrungen zu lernen (siehe Coronakrise) und entsprechend Vorbereitungen zu treffen. Gefragt ist deshalb eine «wirkungs- und bedürfnisorientierte Kampagnenhaltung»: Das Planbare planen, damit man umso flexibler sein kann, um das, was aus der Praxis entsteht, aufzunehmen.
Um eine solche Haltung zu entwickeln, müssten Slogans wie etwa «Es ist fünf vor Zwölf» oder «vom Wissen zum Handeln zu kommen» über Bord geworfen werden. Solche Mottos sind quasi falsche «Theories of Change» und behindern einen, in der Kampagne Wege zu gehen, die Zeit brauchen. Man peitscht sich dauernd selber auf, manchmal bis zum Burnout. Die 5-vor-12-Metapher ist für nachhaltige Erfolge eher Gift denn Dünger. Ebenso wenn man meint, durch aufklärende Information massenhaft Leute übers Wissen zum Handeln zu bringen. Es müsste, wenn schon, umgekehrt lauten: Durchs Handeln zum Wissen und zum Können zu kommen. Das heisst auch, intrinsischen Motivationen Futter geben und nach intrinsischen Belohnungen suchen; also z.B., wenn Mitmachende etwas für sie Nützliches lernen.
Es gilt deshalb umso mehr, in Kampagnen gleichgewichtet Bottom-up-Ansätze in Betracht zu ziehen, also gelingende Praxis im Umfeld einer Kampagne zu suchen, oder wie es die Heaths Brothers nennen: Find a bright spot and clone it. Wo und wie gelingt anderswo die angestrebte oder eine ähnliche Praxis? Daraus lernen und diese bright spots, die Tools und Taktiken, die es für deren Erreichung eingesetzt wurdet, verbreiten, ist auch eine Strategie. Die Ziele sind weniger fix, es kommt auf die Stossrichtung an. Stures Festhalten an Zielen ist wie ein Angebot ohne Nachfrage. Natürlich braucht es eine stabile Vision – z.B. «Zero net 2050» – als Messlatte, aber das eine oder andere Wölkchen kann akzeptiert werden.
Kurzum: Die Campaignerin, die sich an der ToC orientiert und mit systemischer Haltung unterwegs ist, ist eine, die mit Intuition und Empathie Entwicklungen ahnen, Gelegenheiten beim Schopf packen, Nebeneffekte einschätzen sowie Zielgruppen differenzieren kann. Weniger eine Haudegin, die Symptome beklagt. Mehr eine Bodenlegerin und Ursachenbetrachterin, die Emergenzen und Emotionen erkennt sowie Ambivalenz, Volatilität und Komplexität aushält. Und Komplexität nicht vorschnell auf mechanische Interventionen reduziert. Das heisst, erst reduzieren, wenn ein gemeinsames Verständnis und ein Gesamtbild geschaffen wurde. Dabei der Dringlichkeitspeitsche widerstehen, ist eine besondere Herausforderung. Das auszuhalten bedeutet nicht, ewig lange zu planen und das kleinste denkbare Nebeneffektchen auch noch zu berücksichtigen. Es heisst, dass es nicht primär um eine möglichst schnelle Reaktion geht, sondern gute Beispiel zu finden und mit Tests das Feld ausloten.
Eine systemische Kampagne ist wie eine Sprinterin: Wenn’s drauf ankommt, kann sie mal unheimlich schnell sein. Das schafft sie aber nur, weil das Kampagnenteam lange trainiert hat und das jedes Rennen als Training und Lehre sieht.
Theory of Change
Die Theorie des Wandels zeigt auf, wie und warum eine gewünschte Veränderung in einem bestimmten Kontext erwartet werden kann. Sie bildet die Mitte ab zwischen dem, was ein Programm oder eine Veränderungsinitiative tut (die Aktivitäten und Interventionen) und der Art und Weise, wie diese zur Erreichung der gewünschten langfristigen Ziele führen sollen. Dies geschieht, indem diese zuerst identifiziert werden – man beginnt also am Ende – und danach gedanklich zurück gearbeitet wird, um alle Voraussetzungen, Meilensteine und ihre Beziehungen (z.B. Abhängigkeiten) zu ermitteln, die für das Erreichen der Ziele vorhanden oder erfüllt sein müssen. Diese werden in einem Ergebnisrahmen (Outcome Framework) zusammengefasst, der die Grundlage bildet festzulegen, welche Aktivitäten oder Interventionen zu den Meilensteinen führen, die als Voraussetzung der Zielerreichung bestimmt wurden. Durch diesen Ansatz wird die Verbindung zwischen Aktivitäten und den Zielen bzw. Absichten besser verstanden. Dies führt insofern zu einer besseren Planung, als die Aktivitäten mit einem Verständnis davon verbunden sind, wie Veränderungen realistischerweise stattfinden können. Es führt auch zu besseren Evaluationen, da es möglich ist, den Fortschritt hin auf dem Weg zu den Zielen zu messen oder einzuschätzen und zur Feinsteuerung zu verwenden.
Unser Autor
Arbeitet als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz.
Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, arbeitet nun als Humanökologe, Lernspezialist sowie auch Schriftsteller. Neben Kolumnen schreibt er vor allem Gedichte und Aphorismen. Seine letzten Veröffentlichungen sind «Im Rosten viel Neues» (Gedichte, 2016) sowie «Aussicht von der Einsicht» (Aphorismen, 2018). Sein neuestes Buch ‹KL!MA VISTA – Die Schneefallgrenze steigt› Gedichte und Aphorismen erscheint am 23.10.2020 bei Pro Lyrica.