Autofahren

Vom Autofahren lernen lernen

Zu lernen, wie sich einzeln und als Gemeinschaft nachhaltig zu entwickeln und so zu wirtschaften, dass späteren Generationen die Lebensgrundlagen erhalten bleiben, sollte selbstverständlich sein. Und freiwillig. Doch wieso passiert das (immer noch) nicht? 
Wo doch freiwilliges Lernen andernorts durchaus und selbstverständlich funktioniert. So zum Beispiel beim Autofahren lernen. Und liesse sich vielleicht aus dem Phänomen der global verbreiteten Bereitschaft, Auto fahren lernen zu wollen lernen? 

Denn das Autofahren lernen ist wohl die am besten funktionierende Ausbildung von Massen. Zwar fordert der Autoverkehr weltweit jährlich weit mehr Todesopfer als beispielsweise der Krieg in Syrien, trotzdem ist eigentlich erstaunlich, dass es angesichts der Billionen von Fahrbewegungen und der Milliarden von Autos nicht mehr Unfälle gibt. Betrachtet man das Ganze als eine Art "System", das von ungefähr zwei Milliarden Menschen gesteuert wird, ist es mit weniger als ein Promille Fehlleistung eigentlich hochgradig funktionsfähig. Und, wohlgemerkt, Auto fahren ist eine Fertigkeit, die dem Menschen weder in die Wiege gelegt wird, noch die er evolutionär wie das Gehen erwirbt oder wie das Kochen zur Existenzsicherung braucht, sondern die er willentlich und freiwillig lernt. 

Wie ist das möglich?

Ein paar Überlegungen dazu:

  • Intrinsisch motiviert lernt sich bekanntlich leicht, das heisst: Was man unbedingt lernen will, das lernt man auch, egal ob Lesen, Gleitschirm fliegen, Auto fahren oder Cello spielen. Eine notwendige, aber zur Erklärung nicht ausreichende Voraussetzung. Denn während die Anzahl an Cellospielerinnen und Gleitschirmfliegern überschaubar geblieben ist, wurde Autofahren ein Massenphänomen. Es müssen also noch weitere Faktoren hinzukommen.
     
  • Ritual und Symbol: Eine Ursache dafür, dass Autofahren lernen so verbreitet ist, könnte in der Kraft liegen, die von Ritualen und Symbolen ausgeht: Denn Autofahren ist gewissermassen ein Ritual für den Eintritt ins Erwachsenenleben und ein Symbol für Unabhängigkeit und Individualismus.
     
  • Bequemlichkeitsdrang: Der haushälterische Umgang mit seinen eigenen Kräften sicherte dem Menschen in seinen Anfängen das Überleben. So ist zu vermuten, dass dem Menschen eine evolutionsbedingte Anstrengungsvermeidung eigen ist. Diese ist aber heute, wo die meisten Menschen mit ihrer Energie nicht mehr sparsam umgehen müssen, zum Bedürfnis mutiert, Bequemlichkeit zu maximieren. Dafür steht Autofahren quasi idealtypisch, überholt nur noch von den Smartphones. (Mehr dazu im Beitrag «Gaaanz bequem zu Grunde gehen»)
     
  • Lernmethode: Dass der Autoverkehr funktioniert, könnte zudem zwei "didaktische" Gründe haben: Erstens die Unmittelbarkeit und die Klarheit der möglichen Konsequenz bei Fehlverhalten - wie Busse, leidige Schuldabklärung oder Unfall mit schweren Verletzung oder man kann gar selber umkommen. Zweitens ist Lernen in Form von begleiteten Lernfahrten ein “Learning-by-doing bzw driving“, also jene Methode, mit der die allermeisten Menschen am besten lernen: Ein praktisches Einüben von Fahrtechnik und Regeln.

 
Denkt man diese Überlegungen weiter, könnten sich für die Bildung für nachhaltige Entwicklung folgende Fragen stellen:

  • Welche Kompetenzen einer „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ liessen sich in „Learning-by-Doing“-Settings erwerben? (siehe dazu das BNE-Kompetenz-Schema von Education21). 
     
  • Gibt es eine Nachhaltigkeits-Fertigkeit, die sich als Ritual inszenieren liesse oder die den Bequemlichkeitsdrang anzusprechen vermag?
     
  • Könnte das bestehende Autofahr-Ausbildungssystem im Trittbrett-Verfahren genutzt werden? Zum Beispielso, dass, wer Auto fahren lernt, für die Prüfung auch andere Mobilitätsarten kennen muss. 
     
  • Wie könnte man, gemäss dem Bonmot von Antoine de St. Exupéry „Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Leute zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und Arbeit einzuteilen, sondern lehre den Leuten die Sehnsucht nach dem weiten Meer“ eine Sehnsucht finden, die der Nachhaltigkeit innewohnt? Und wie könnte diese die Sehnsucht Individualismus bzw. Unabhängigkeit "konkurrieren"? 

 
Bei der nachhaltigen Entwicklung geht es um das Ideal des „genügsam zufriedenen Menschen“ und eines Wirtschaftens, das primär dem Gemeinwohl und nicht dem Einzelwohl dient. Für den Weg zum Ideal stellt sich allerdings die Frage, ob es eine Auffahrt zu diesem schmalen Nachhaltigkeitspfad gibt, die auch für Nichtüberzeugte attraktiv wäre und zu einem freiwilligen Lernen führen würde. Dabei geht es wesentlich um ein Entlernen bzw. Umlernen gesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten, also etwa vom Auto-Fahren zum Nachhaltigkeits-Gehen kommen. Nachhaltige Gewohnheiten anzunehmen,ist umso wahrscheinlicher,  je früher sie erlernt werden, je niederschwelliger sie sind und je mehr man erlebt, dass Verzicht nicht nimmt, sondern gibt*. 
 
Mit anderen Worten: Gesucht ist ein ganzheitlicher Ansatz, der an die Wurzeln des menschlichen Seins geht, nämlich dem Streben des Menschen nach Wohlbefinden und Glück. Weniger Materielles mehr Soziales, Spirituelles und Kulturelles. So wie das zum Beispiel das “Happy School Project” verfolgt, bei welchem das Wohlbefinden der Kinder im Zentrum steht.

 
 
*siehe dazu den wissenschaftlichen Artikel “Social tipping dynamics for stabilizing Earth’s climate by 2050” (Januar 2020) - in dem ForscherInnen mittels einer Meta-Studie die sechs wichtigsten “sozialen Kipppunkte” (oder Hebel) zur Stabilisierung des Klimas destillierten. Neben der Verschiebung staatlicher Subventionen weg von Öl, Kohle und Gas hin zu erneuerbaren Energien sowie dem Deinvestment in diese fossilen Energieträger, ist es auch (u.a. ) Bildung.



Kuno Roth

Unser Autor

Arbeitet seit drei Jahren als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz. 

Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, arbeitet nun als Humanökologe, Lernspezialist sowie auch Schriftsteller. Neben Kolumnen schreibt er vor allem Gedichte und Aphorismen. Seine letzten Veröffentlichungen sind “Im Rosten viel Neues” (Gedichte, 2016) sowie “Aussicht von der Einsicht” (Aphorismen, 2018). Mehr unter https://prolyrica.ch/b-b/kuno-roth.

Kuno Roth