Sensibilisierung und Barrierefreiheit: Schweiz vs. Honduras

Mit verbundenen Augen gehen Jugendliche beim “Marsch für Inklusion” durch die honduranische Stadt El Progreso. Bild: PWS

Wer hätte gedacht, dass ich als Menschenrechtsbegleiterin in Honduras ähnlichen Themen begegne, wie als Projektleiterin bei Kampagnenforum in der Schweiz? Barrierefreiheit und entsprechende Sensibilisierung ist im zentralamerikanischen Land genauso ein drängendes Thema wie in der Schweiz. Die Teilnahme am “Marsch für Inklusion” in der honduranischen Stadt El Progreso zeigte mir, dass Sensibilisierungskampagnen in beiden Ländern ähnlich funktionieren. 

Mit der Organisation Peace Watch Switzerland (PWS) begleite ich als internationale Beobachterin honduranische Menschenrechtsverteidiger:innen, damit sie für ihre Rechte einstehen können. Das zentralamerikanische Land ist geprägt von Armut und Korruption, Menschenrechte werden gerne ignoriert. Typischerweise begleiten wir Aktivistinnen und Aktivisten bei Behördengängen, bei Sitzungen mit staatlichen Repräsentant:innen oder wenn sie bei der Polizei eine Anzeige erstatten. Hin und wieder sind wir aber auch bei Demonstrationen dabei, um beizutragen, dass das Recht auf Protest eingehalten wird. So auch im Juni 2024, als wir eine honduranische Organisation begleiteten, die sich für die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigung einsetzt. Wenn Barrierefreiheit, sei es im physischen oder digitalen Raum, schon in der Schweiz ungenügend ist, so stelle man sich die Situation in Honduras vor… 

Der “Marsch für Inklusion” in der Stadt El Progreso (= span. für ‚der Fortschritt’) zeigte deutlich, dass die Stadt, sowie das ganze Land bezüglich Barrierefreiheit überhaupt nicht fortschrittlich ist. Eine honduranische NGO organisierte einen Sensibilisierungs-Marsch, um auf die schwierigen Umstände und Barrieren aufmerksam zu machen, auf welche Menschen mit einer Behinderung tagtäglich stossen. Über 200 Jugendliche des lokalen Gymnasiums nahmen an diesem “Marsch für Inklusion” teil. Mit verbundenen Augen tasteten sie sich durch die chaotischen Strassen und mussten sich von Mitstudierenden führen lassen. Denn Blindenleitlinien gibt es auf den holprigen honduranischen Trottoirs kaum - dafür tiefe, nicht abgesperrte Löcher mitten auf den Gehwegen und den Strassen. Auch mit Krücken und Rollstühlen kämpften sich die Jugendlichen über die hohen Randsteine, die kaum überwindbare Hindernisse darstellen. Sie zwängten sich an den ambulanten Strassenverkäufer:innen vorbei, welche die engen Trottoirs mit ihren Auslagen noch schmaler machen und die wenigen Rollstuhlrampen besetzen. Im Gegensatz zur Schweiz, wo immerhin bereits Barrierefreiheit im digitalen Raum ein Thema ist, geht es in Honduras um grundsätzliche Infrastruktur, die für alle Fussgänger:innen eine grosse Herausforderung ist. 

Kampagne für Digitale Barrierefreiheit in der Schweiz

Der Marsch in Honduras erinnerte mich stark an eine Aktion im Rahmen der Kampagne, die wir mit Kampagnenforum für den Schweizerischen Blindenverband (SBV) im Herbst 2023 zum Thema digitale Barrierefreiheit (Digitale Barrierefreiheit. Jetzt!) durchgeführt haben: An einer Zürcher Kantonsschule baten wir Schüler:innen, sich mit verbundenen Augen beim Kaffeeautomaten mit Touchscreen einen Cappuccino zu servieren. Ohne haptische Knöpfe war es für die Teilnehmenden fast unmöglich und reine Glückssache, den richtigen Kaffee auszuwählen. Das Experiment zeigte die Schwierigkeiten auf, die viele Alltagsgeräte mit digitaler Bedienung mit sich bringen. In Freiburg testeten wir mit sehenden Passant:innen, wie es ist, einen Wahl- oder Abstimmungszettel selbständig mit verbundenen Augen, also blind, auszufüllen. Absolut unmöglich, einen Namen in die richtige Zeile zu schreiben. Hier könnte die digitale Barrierefreiheit in Form von E-Voting die Hürden abbauen und die politische Teilnahme von sehbeeinträchtigten Menschen ermöglichen. Beide Experimente zeigten deutlich, wie schwierig und diskriminierend der Alltag ohne Barrierefreiheit auch in der Schweiz ist. 

Bei Sensibilisierungskampagnen geht es darum, Aufmerksamkeit auf ein Problem zu lenken, Betroffenheit zu schaffen und aufzuzeigen, was es bedeutet, mit einer Beeinträchtigung durchs Leben zu gehen. Sowohl beim “Marsch für Inklusion” in Honduras, als auch bei den zwei Aktionen in der Schweiz ist dies gelungen: Die teilnehmenden Menschen ohne Beeinträchtigung erlebten die Einschränkungen am eigenen Leib und zeigten sich anschliessend schwer beeindruckt und betroffen. 

Sensibilisierung zielt auch darauf ab, die Aufmerksamkeit von Politiker:innen auf ein Problem zu lenken und sie zum Handeln und zur Verbesserung der Situation aufzufordern. Die Menschen in Honduras haben von Seiten der Politik schon unzählige Enttäuschungen in Form von Korruption und Ungerechtigkeiten erlebt. Trotzdem bringen zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsverteidiger:innen immer wieder Optimismus und Mut auf, um gegen die vielen Diskriminierungen einzustehen. Dieser unerschütterliche Tatendrang und das Engagement beeindrucken mich zutiefst. Im Bereich der Barrierefreiheit gibt es in beiden Ländern noch viel zu tun. Honduras geht meiner Meinung nach mit einem beeindruckenden Beispiel an zivilgesellschaftlichem Einsatz voran. Mit Hartnäckigkeit und dem beherzten Engagement von zivilgesellschaftlichen Akteuren kann in beiden Ländern ein Wandel angestossen werden, hin zu inklusiven und barrierefreien Gesellschaften. 

Peace Watch Switzerland

Honduras ist geprägt von Armut, Gewalt und Ungleichheit. Im zentralamerikanischen Land werden Probleme im Bereich der Menschenrechte kaum untersucht, Straflosigkeit und Korruption gehören zur Tagesordnung. Die Schweizer Non-Profit Organisation Peace Watch Switzerland (PWS) sendet internationale Freiwillige, die als neutrale, unabhängige und unparteiische Beobachter:innen Menschenrechtsverteidiger:innen begleiten. PWS wird von Personen und Organisationen angefragt, um bestimmte Situationen zu begleiten, zuzuhören, zu beobachten und allfällige Unregelmässigkeiten zu rapportieren. Die blosse Anwesenheit der internationalen Organisation unterstreicht die Relevanz und demonstriert den honduranischen Behörden, dass der Fall international beachtet wird. Die Freiwilligen sind bei Begleitungen immer zu zweit unterwegs und tragen grüne Westen mit dem PWS Logo als Erkennungsmerkmal. 

Als Menschenrechtsbegleiterin in Honduras, immer mit der grünen Weste.

Unsere Autorin

Anselma arbeitet bei Kampagnenforum als Projektleiterin Campaigning & Kommunikation. Kommunikation fasziniert sie nicht nur auf Deutsch, sondern besonders auch auf Spanisch. Daher zieht es sie immer wieder nach Mittel- und Südamerika. Aktuell leistet sie während 6 Monaten einen Freiwilligeneinsatz und arbeitet statt vom Büro aus vor allem im Feld und begleitet Menschenrechtsaktivist:innen in Honduras. Im Einsatz ist sie immer mit der grünen Weste als Erkennungsmerkmal unterwegs.

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