Die neue Schirm-Herrschaft
Kuno Roth über Medien, die uns konsumieren
Das war einmal: Laut Statistik verbrachte im Jahr 2007 ein durchschnittliches Kind in der Schweiz pro Tag zwei Stunden vor dem Fernseher und zwanzig Minuten mit seinem Vater. Und man fragte sich damals, ob so viel TV-Konsum nicht ungesund sei. Auf der einen Seite vertrat die Vereinigung der Kinderärztinnen und -ärzte den Standpunkt, dass mehr als eine Stunde TV pro Tag asoziales Verhalten fördere, und forderte deshalb, Kinder unter vier Jahren seien vom Fernsehen fern zu halten.
Auf der anderen Seite gaben die Fernseh-Anstalten jeweils Entwarnung: Verschiedene Studien hätten gezeigt, dass kein ursächlicher Zusammenhang nachzuweisen sei; allerdings brauche es für Gewissheit noch Langzeitstudien.
Wie auch immer, bereits bevor die Smartphones ab 2008 die Märkte zu erobern begannen, fragten sich die einen, wie viel Bildschirm der Mensch eigentlich ertrage; beziehungsweise ab welcher Dosis er sich wohl ab-schirme. Oder ob, wie andere meinten, der sich abzeichnende Wettbewerb unter den Schirmen es schon richten werde und Sorgen also unnötig seien. Wie dem auch sei, letztere hatten zumindest die Zeichen einer zunehmenden Vielfalt von Schirmen richtig erkannt.
Und das ist heute: Neben Fernseher und Computer haben übermächtige Mitbuhler ihre Schirme aufgespannt. Sowohl im eigenen Umfeld als Smartphone, Tablet, Wandbildschirm und Laptop im Home-Office als auch unterwegs als Fahrplananzeige im Bahnhof, Videowerbung am Schalter oder als News im Postauto. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis Bildschirme auch die letzten schirmfreien Winkel wie Kirchen, Toiletten, Wanderwegweiser und Fahrstühle erobert haben werden.
Jedenfalls, so die Autorin Anna Miller im BUND (27. Februar 2023), verbringe der westliche Mensch 40% der Wachzeit mit einem Bildschirm. Ihrer Forschung gemäss, checkt ein:e Jugendliche:r durchschnittlich 150 Mal pro Tag, ob etwas Smartes aufs Phone gekommen sei. Im Schnitt.
Phänomenal ist auch eine Zahl aus den USA: Gemäss dem britischen Journalisten Johan Hari berührt ein:e Durchschnittsbürger:in ihr/sein Smartphone 2017 mal pro Tag. Das schreibt er in seinem Buch «Abgelenkt» (und «app-gelenkt» möchte man anfügen), in dem er Wege aufzeigt, wie wir mit Ruhe die Konzentration zurückgewinnen können. Doch weshalb gibt es diesen Drang zum Checken? «Die Angst etwas zu verpassen, zeichnet viele Menschen im Zeitalter der Digitalisierung aus», sagt dazu der Psychologe Johannes Hepp: Sie führe «… direkt in das Burn-out aufgrund pathologischer Erfahrungsgier» (Psychologie Heute, 04/2023).
Und verpassen könnte man zunehmend viel – so stellt, wer etwas anstellt, das heute auf Youtube, weil sich dort neben TikTok die Jugend, der künftige Markt, herumtreibt. Ob gefilmte Gebrauchsanweisung, Konzertaufnahme, Rezept, Kleider- oder Schminktipp oder ob Erklärvideos darüber, warum die Erde eine Scheibe ist (und noch häufiger, warum sie rund ist), was die Relativitätstheorie bedeutet oder wie die Klimaerwärmung oder -anlage funktioniert, jeder Klacks ist mit ein paar Klicks zu finden.
Schon stellen sich einige vor, dass Lehrer und Dozentinnen bald teilweise eingespart werden könnten: Eine Sequenz einmal unterrichten, filmen und auf Youtube stellen: Das reicht für die folgenden Jahre; abgesehen von gelegentlichen Updates.
Es scheint, als ob wir Zeugen einer neuen Art Schirm-Herrschaft werden, unter welcher wir die Metamorphose von Kindern und Jugendlichen zu Schirmlingen mitverfolgen können. Ohne Zweifel wird es zwar bald Studien geben, die belegen werden, dass zu viel Schirm dem Charme der Heranwachsenden schade. Doch diesen werden mit Sicherheit Gegenstudien der Bildschirmdealer auf dem Fuss folgen, die nachweisen, dass noch nichts gesichert nachgewiesen werden könne, und man also noch auf Langzeitstudien warten müsse.
Als Begleiterscheinung davon ist die Zunahme von «digitalen Diäten» abzusehen, wie zum Beispiel als Digital-detox-Abschalt-App. Damit einhergehend nehmen die Erfahrungsberichte von Selbstversucher:innen zu, die über ihren Mut schreiben, eine Woche ohne Smartphone verbracht zu haben.
Und was haben die Organisationen der Zivilgesellschaft auf ihrem Schirm? Hell erleuchtet zuoberst den Zwang und Drang zur digitalen Transformation: Er ist unausweichlich und also ist es ein Muss für alle NGOs Fundraising, Partizipation und Campaigning zu onlineisieren. Sie sind denn auch wacker digital unterwegs.
Vom Radar gefallen scheint den meisten indes, das zur Nische geschrumpfte Angebot an Primärerfahrung, das heisst, jungen Menschen in Wald, Wiese und Wasser reale Erlebnisse zu ermöglichen. Vielleicht weil die Zeit dazu fehlt, denn Digitalisierung beschäftigt dauerhaft. Big Tech gibt uns viel zum Spielen. Man hat immer mehr Möglichkeiten noch mehr zu machen, der Chat GPT lässt grüssen. Doch womöglich legen Pfadi, Sportvereine und Jugendgruppen bereits oder bald an Mitgliedern zu – wäre jedenfalls ein formidables Detox-Programm.
Ein Hors-sol-Leben wird zwar am Ende des Tages der Digitalisierung nur wenige glücklich gemacht haben. Zu befürchten ist allerdings, dass die Mehrheit nicht mehr in der Lage sein wird, sich selbst zu «detoxen».
Und was wird auf den Grabschirmen der digital Aufgewachsenen stehen? «Hier ruht real, endlich konzentriert und in Frieden …».
Unser Autor
arbeitete zuletzt als Leiter des globalen Mentoring- und Coaching-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz. Frisch pensioniert, ist er weiterhin als Berater tätig und amtet zudem als Co-Präsident von Solafrica.
Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, nunmehr Humanökologe, Lernspezialist sowie Schriftsteller. Neben Kolumnen schreibt er vor allem Gedichte und Aphorismen. Seine letzten Veröffentlichungen sind «Im Rosten viel Neues» (Gedichte, 2016), «Aussicht von der Einsicht» (Aphorismen, 2018) sowie ‹KL!MA VISTA – Die Schneefallgrenze steigt› (2. Aufl. 2022, bei Pro Lyrica).