Zufriedenheit statt Zahlen ins Zentrum rücken
Der Weg zu den Klimazielen könnte eine Wanderung sein
«Wie uns die lange Geschichte der Unfähigkeit der Menschheit, auf die Klimakrise zu reagieren, gezeigt hat, reicht es einfach nicht aus, Informationen nur auf intellektueller Ebene zu verarbeiten», schreibt die australische Klimatologin Joëlle Gergis im Guardian [1]. Bei dem, was ich an Klimakommunikation mitbekomme, kommt es mir so vor, dass Umweltorganisationen den Zahlen noch eine kräftige Portion Dringlichkeit beifügen. Ich frage mich, ob so die Ansprache gelingt, dass sich möglichst viele Menschen auf den «Klima-Bergweg» begeben. Stelle ich mir Klimaschutz als Wandervorschlag vor, dann tönt der entsprechende Beschrieb etwa so:
Wanderung 1: «Wir werden heute im strammen Marsch 1200 Meter auf- und 650 Meter absteigen und dabei 18 Kilometer zurücklegen. Wir starten um 9 Uhr, machen um 10.30 und 12.30 eine kurze Pause und erreichen spätestens um 17 Uhr unser Ziel.» Oder aufs Klima übertragen eben etwa so: «1.5 Grad Erderwärmung ist das maximal Aushaltbare, 2 Grad sind zu viel. Bis 2030 braucht es 70% CO2-Einsparung, bis 2050 netto Null. Umgerechnet auf eine DurchschnittsschweizerIn heisst das, x Tausend Tonnen CO2-Verbrauch weniger pro Jahr, sprich y kg weniger pro Tag».
Wir glauben, dass je mehr Menschen Klimafakten kennen und verstehen, desto mehr werden sie unsere Forderungen tragen. Wir klammern uns an naturwissenschaftliche Zahlen als Krücke für unsere Forderungen. Wir haben recht und wiederholen das wieder und wieder. Doch spätestens wenn sich rational-grün Denkende darüber ärgern, dass ihnen nicht gefolgt wird, müsste man einsehen, dass es eben auch und primär um Emotionen geht. Eine andere Art zu einer Wanderung einzuladen, hörte sich so an:
Wanderung 2: «Beim Aufstieg schlängelt sich der Weg an tausenden Blüten vorbei, und oben machen wir an einem türkisblauen, kristallklaren Bergsee Rast. Dieser lädt die Mutigen zum Bade ein. Wenn wir Glück haben, können wir ein Rudel Gämsen beobachten, das am kühlen Nass labt. Wir steigen weiter hoch auf einen kleinen Gipfel, wo wir mit einer prächtigen Aussicht auf sechs Viertausender belohnt werden.»
In Klimasprache übersetzt, stünde hier sinnliches Erleben, die Lebensqualität im Zentrum. Lebensfreude vor Zahlen. Ein solcher Klimapfad ist dann ein Erlebnispfad. Zu erleben, wie fleischarm Kochen wunderbar geht, wie die Kraft der Natur entspannt, wie die Freude am Gemeinschaftsgarten der Siedlung näher bringt – so wie das das Konzert eines afrikanischen Musikers am Dorffest ebenfalls tut. Kurz: Das Narrativ ist das des guten Lebens.
Trockene Fakten sind kein Ansporn für alle
Zweifellos gibt es Menschen, die aufgrund nüchterner Beschriebe und Informationen entscheiden, zu wandern oder nicht. Aber für die allermeisten führt der Weg zu einer klimaschützenden Gesellschaft über anderes. Wohlbefinden, soziale Wärme und Zufriedenheit sind dabei zentral. Zahlen erschliessen sich der Mehrheit nicht - weder Tonnen CO2, noch Gigawatt Solarleistung und nicht einmal 1.5 Grad. Letzteres erscheint zwar wie Fieber als messbar, und doch bleibt es abstrakt, weil man sich den Unterschied zu 2 Grad nicht wirklich vorstellen und die Zahl auch nicht direkt beeinflussen kann.
Damit ist nichts gegen Zahlen an sich gesagt. Die braucht es; die Wanderzeit etwa ist auch für die Qualitäts-Wanderer*innen von Belang und je nach Zielgruppe auch die Höhenmeter. Gewarnt sei nur davor, den eigenen Zugang auf alle zu projizieren. Denn schlechte Nachrichten - wie es Klimazahlen nun einmal sind - verleihen nur Empörungsgetriebenen Energie, nicht aber der breiten Bevölkerung.
Sonst hätte der UNO-Erdgipfel von Rio 1992 ja schon Wirkung entfaltet; er rief schon damals die Weltgemeinschaft mit Zahlen dazu auf, den Weg der nachhaltigen Entwicklung zu beschreiten. Symptomatisch dafür stehen die UNO-Klimakonferenzen (als eine der Fortführungen des Erdgipfels) – an deren 21. Austragung 2015 in Paris schliesslich ein auf Zahlen basierender Plan verabschiedet wurde und in der Schweiz das «Forschungsschwerpunktprogramm Umwelt», in dessen Rahmen zwischen 1992 und 2001 hundert Millionen Franken in 247 Projekte flossen und 3000 Publikationen entstanden. Aus deren Synthese wurden sechs dringende Handlungsfelder und 13 Empfehlungen destilliert, u.a. Klimaschutz, Biodiversität, Bodenschutz. Das war 2002. 2020 gelten sie nach wie vor. Das schmerzt. [Nachzulesen im Schweizerischen Jahrbuch für Entwicklungspolitik von 2003]
Den Weg über die Zufriedenheit suchen
Fast 30 Jahre nach dem Rio-Gipfel wäre es an der Zeit, die für den systemischen Wandel notwendige Grundlage Lebensqualität zu schaffen. Was für die NGOs heissen würde: Weniger stellvertretend schützen, lobbyieren und protestieren - was im Grunde ja heisst, sich vom Gegner lenken zu lassen – und stattdessen vermehrt «zusammen Lösungen zum Durchbruch zu verhelfen», also eine nachhaltige Lebenstauglichkeit, basierend auf Lebensqualität, ins Zentrum des Tuns rücken [2]. Dieser Weg ist der Weg über die Zufriedenheit, wie ihn die Glücksforschung nahelegt. Denn eine zufriedene Gesellschaft lebt sozial- und umweltverträglicher.
Das Streben nach Glück bzw. Lebenszufriedenheit ist ein Kern des Menschseins. Glück kann allerdings nicht geplant werden. Beeinflussbar sind gemäss Glücksforschung [3] hingegen die Voraussetzungen für mehr Zufriedenheit, nämlich diese:
1. Die Selbstwirksamkeit und das Sozialkapital kommen zum Tragen z.B. konzentriertes Tun, körperliche Betätigung, in der Natur sein, befriedigende Hobbies, gute Sozialkontakte, intakte Familie, erfüllende Partnerschaft.
2. Das Wohlbefinden wird gestärkt z.B. gute Gesundheit, Zugang zu Bildung, Alleinsein können, Geborgenheit, Gruppengefühl, Spiritualität, Entwicklungs- und Autonomiemöglichkeiten.
3. Menschliche Qualitäten und Tugenden werden gefördert z.B. Fairness, Solidarität, Bescheidenheit, Begeisterung, kommunikative Fähigkeiten, künstlerische Tätigkeit, Mitgefühl, Neugierde, Widerstandskraft, Hoffnung, Humor.
Auf diesen drei Ebenen ist anzusetzen, um das Streben nach konsumistischem Schein-Glück einzudämmen. Und nicht auf der Ebene des «ökologischen Fussabdruckes», der im Prinzip eine zahlenbasierte Wanderanleitung ist. Oder in den Worten von Dasho Karma Ura, dem Leiter des Bruttonationalglück-Programms von Bhutan: «Wir müssen die technischen Innovationen (...) des Westens mit einem ganzheitlichen Pfad der materiellen und spirituellen Entwicklung verbinden.» (siehe dazu “Sustainability makes people happier” (UN World Happiness Report) und «Gut leben und das Klima schützen» (Kolumne)).
Für Kampagnen und deren Kommunikation wären dafür folgende Ansätze überlegenswert:
- Auf Natur-, soziale und kulturelle Erlebnisse sowie konkrete Taten setzen.
- Kampagnen helfen mit, sozial und ökologisch verträgliche Arbeitsplätze zu schaffen. Sie gehen Kooperationen ein und vermeiden Konkurrenz.
- Solidarität und Fairness fördern, d.h. sich für gute Rahmenbedingungen für ein freudvolles Zusammensein und für die Auflösung der Aufteilung in Hand- und Kopfarbeit engagieren.
Umweltorganisationen sollten, so das Fazit, sich also Umweltthemen vermehrt aus sozialer Sicht annehmen und verstärkt Teil eines Gegenentwurfs zum kapitalistischen System werden. Dem Narrativ «Glück = Geld = Konsum» wir die Erzählung der Lebensqualität entgegengestellt. Statt nach dem Glück durch Konsum wird nach Zufriedenheit durch Sinngebung gestrebt. Als Mass für Wohlbefinden soll das Bruttoinlandprodukt (BIP) durch das Bruttonationalglück (BNG) oder einen anderen Wellbeing-Index ersetzt werden.
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Joëlle Gergis, Climatologist, Australian National University im Guardian, 15.10.20
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Ein weiterer Ansatz für NGOs ist hier beschrieben: „Ein Apolloprogramm fürs Klima?“
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je nach Quelle gibt es drei oder vier universelle Glücksfaktoren, Helvetas z.B. stützt sich bei ihrem Projekt “Happiness” auf die vier des Belgiers Eric Lambin. Andere Quellen sind: “The 4 Factors that increase happiness” (Businesswelt), oder umfassender beim World Happinness Report, mit dem die UNO jährlich das Wohlbefinden der Einwohner*innen von 156 Staaten mit sieben Indikatoren erfasst. Die wichtigste Faktoren sind laut Report: Gute soziale Beziehungen, Vertrauen und in einander und in die Institutionen.
Unser Autor
Arbeitet als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz.
Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, arbeitet nun als Humanökologe, Lernspezialist sowie auch Schriftsteller. Neben Kolumnen schreibt er vor allem Gedichte und Aphorismen. Seine letzten Veröffentlichungen sind «Im Rosten viel Neues» (Gedichte, 2016) sowie «Aussicht von der Einsicht» (Aphorismen, 2018). Sein neuestes Buch ‹KL!MA VISTA – Die Schneefallgrenze steigt› Gedichte und Aphorismen ist am 23.10.2020 bei Pro Lyrica erschienen.