Partizipation: Ja, aber wie?
Botswana, August 2018: Solar Ambassador Onkarabile Jackson organisiert einen Solar-Informationsstand an einem Treffen der botswanischen Pfadibewegung. Er demonstriert den Besucher*innen Solarbrunnen, -ladegerät und -kocher. Einer der Besucher ist der Minister für Jugend, Entwicklung und Kultur. Er trinkt solar gebrauten Kaffee und ist begeistert. Wie kommt Scout Leader Onkabrile dazu, ein Solar Ambassador zu sein? Und wieso gelang es einige hundert Kilometer nordwestlich in Guinea 2016, Ebola erfolgreich zu bekämpfen? Zwar erst im zweiten Anlauf, aber trotzdem. Das Gemeinsame der Erfolge ist: gelungene Partizipation als Kernelement.
Kampagnen ohne Partizipation sind wie ein Velo ohne Kette: Man strampelt und kommt doch nicht vorwärts. Bei Protestkampagnen ist Partizipation eher kurzzeitig, denn solche Kampagnen versuchen die Änderung gewissermassen als Arbeitsauftrag an die Verursacher eines Problems bzw. an die Politik zu delegieren. Lösungskampagne heisst, nicht primär Schuldige zu finden, sondern Lösungen in Zusammenarbeit mit Betroffenen umzusetzen. Das heisst, "man" packt selber auch an.
Geschieht Änderung nur vereinzelt, ist das zwar ehrenhaft, bleibt aber ohne gesellschaftliche Folgen. Soll sich eine ganze Gesellschaft verändern, genügen Herz, Kopf und Hand Einzelner nicht, es braucht das Engagement vieler, es braucht Partizipation. Und zwar eine, die aus Betroffenen Beteiligte und Träger*innen einer Kampagne werden lässt (mehr zum Prinzip der Partizipation siehe Kasten).
Die Umsetzung von Kampagnen, die gesellschaftliche Lösungen vorantreiben wollen, bedarf daher einer systemischen Sicht; wobei systemisches Betrachten stets mit einer gewissen Unübersichtlichkeit beginnt: Was hängt wie mit was zusammen, wer ist wie betroffen, etc.? Das herauszufinden braucht eine grosse Portion Neugierde und ist Voraussetzung für gelungene Partizipation.
Das hier vorgestellte Partizipationsmodell wurde an einem Workshop an einer Tagung zum Solutions-Campaigning entwickelt. Anhand der Analyse von zwei Fallbeispielen versuchten wir zuerst eine Übersicht und daraus ein systemisches Verständnis für die Prozesse zu gewinnen. Der eine Fall ist „community-based“ und handelt von der Ebola-Krisenintervention in Guinea. Diese scheiterte vorerst, weil Partizipation nicht als relevanter Faktor betrachtet wurde und die Hilfeleistenden deshalb von den Gemeinschaften als Virus-Verbreiter*innen verdächtigt und zurückgewiesen wurden. Erst durch den aktiven Einbezug der jeweiligen kommunalen Bevölkerung führte die Intervention zum Erfolg. Der zweite Fall ist „network-based“: Das Projekt Scouts-go-Solar nutzt das globale Pfadfinder-Netzwerk der World Organization of Scout Movements WOSM, um Solarenergie als Klimaschutz zu propagieren. In diesem Fall wurde mit einem Testtraining für Pionier-Scout-Leaders begonnen, die in einem Pfadilager ausprobierten, ob und wie es gelingen kann, Kinder experimentell in die Welt der Solarenergie einzuführen. Und die Initianten des Projekts konnten herausfinden, ob sie, Kinder wie Leiter, “es” gerne tun.
Aus der systemischen Analyse der beiden Fälle entstand ein Modell. Der entscheidende Schritt hierzu war, die Fälle in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen und daraus Kernelemente zu destillieren, nämlich vier: Eine Initiation, zwei Grundprozesse ("Gärung" und "Verbreitung") sowie ein Hauptindikator, die "positive Emotion der Beteiligten". Die Reduktion auf vier Bestandteile hilft, sich in der Komplexität zurecht zu finden und sich trotzdem ihrer bewusst zu sein. Die vier Elemente in Kürze:
- Initiation: Eine Gruppe greift als Initiant*innen ein brennendes Thema auf, weil sie eine Veränderung erreichen möchte. Sie tritt mit diesem Anliegen an ein Zielpublikum heran, durch dessen Mitwirkung sie sich merkbare Änderung in der beabsichtigten Richtung verspricht. Sie nimmt mit Vertreter*innen der Zielgruppe Kontakt auf und macht ihnen ihr Thema und Anliegen möglichst praxisnah zugänglich. Hierbei sollte es bereits etwas funken. Bevor aber etwas getan wird, hören die Initiantinnen den Zielgruppen-Vertretern zuerst genau zu, um deren Bedürfnisse, Ideen, Rahmenbedingungen etc. zu erfahren. Dazu werden z. B. Workshops veranstaltet und Interviews durchgeführt. Im Anschluss daran können in Praxisübungen Teile einer möglichen Kampagne bereits ausprobiert werden ("Prototyping").
- Gärprozess - vom Zuhören über Pretests zum Pilotprojekt: Ausgewählte Multiplikator*innen entwickeln im Austausch mit Testgruppen praxistaugliche Instrumente; bzw. passen bestehende an die Bedürfnisse an. Funktionierende Tools überzeugen; diese sind zentral. Am Ende der Gärung geben sich "Top-Down" und "Bottom-up" die Hand; d. h. Strategieebene und funktionierende Praxis finden zusammen und entfalten gesellschaftliche Wirkung (Grafik). Gärprozesse brauchen Zeit, weil es u. a. darum geht, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Wird dieser Prozess übergangen oder geschieht er zu schnell, kann das geschehen, was bei der Ebola Bekämpfung in Guinea zuerst geschah: Ablehnung.
- Hauptindikator positive Emotionen: Tools, Botschaft, Mobilisierungs-Events und anderes mehr haben dann das Potenzial, massenfähig zu werden, wenn die Testgruppen Freude und Interesse an der gemeinsam entwickelten Sache haben. Diese beiden Emotionen sind die Triebkräfte von Lösungskampagnen. Der Änderungsprozess geschieht dabei nicht mit den Zielgruppen, sondern durch sie. Das heisst, die Gemeinschaften sind die Trägerinnen, nicht primär die Initianten. Und je mehr die angestrebte Veränderung den Interessen der Community entspricht, desto wahrscheinlicher bleiben Menschen engagiert.
- Verbreitungsprozess: Der erste Meilenstein – ein co-kreierter grösserer Prototyp in Echt-Praxis – ist zugleich der Startpunkt für den Verbreitungsprozess (“up-scaling”), entwickelt anhand der Frage: Wie kann an weiteren Orten, prototyp-ähnlichen Orten, die entwickelte Praxis als Samen gepflanzt und zum Keimen gebracht werden? In beiden Fällen war das ein gestützter Transfer-Prozess, bei dem z. B. Multiplikator*innen von Trainern mit dem "richtigen Stallgeruch" ausgebildet werden. Im Ebola-Fall hiess das, dass staatliche Gesundheitsfachpersonen lokales Pflegepersonal ausbildeten, im Pfadi-Fall Scout Solar Leaders Pfadileiter*innen. Diese Multiplikator*innen werden in ihrer ersten Praxis von Mentor*innen (z.B. den Trainern) begleitet, so dass die Umsetzung in der Community des Multiplikators wahrscheinlich(er) wird. Die Verbreitung geschieht sodann von Gemeinde zu Nachbargemeinde bzw. über Netzwerke wie etwa das globale Pfadfinder-Netzwerk. Eine andere Art der Verbreitung ist ein lokal verankertes Geschäftsmodell wie das z. B. bei der „Solarisierung“ des ruralen Bangladesh der Fall war (siehe Fallstudie).
Ebola und Scout Solar sind sehr unterschiedliche Fälle und gerade deshalb aufschlussreich, weil sie trotzdem ein ähnliches Grundmuster aufweisen: Erfolgreiche gesellschaftliche Änderungen fussen auf partizipativem zivilgesellschaftlichem Engagement und auf Gemeinschaften. Nur durch sie geschieht der gewünschte Wandel. Systemisches Campaigning ist also inklusives Campaigning auf Augenhöhe, dessen Erfolg auf der Qualität der Beziehungen beruht. Campaigning, das primär auf Quantität setzt, arbeitet mit den Waffen des Gegners. Solche Konfrontation ist zwar manchmal angezeigt, ist aber für nachhaltigen Erfolg oft untauglich, wenn es das alleinige Prinzip ist.
Zu diesem Partizipationsmodell gibt es ein open-source google document, eine Art Manual (auf Englisch; Entwurf).
Mittlerweile wurden gegen hundert Scout-Leaders zu Solarenergie-Multiplikator*innen ausgebildet und die aktivsten unter ihnen sie sind nun in ihren jeweiligen Kontexten selbständig unterwegs. Sie haben “Ownership” übernommen. Wie Onkarabile Jackson in Botswana. Bei der WOSM ist Scouts-go-Solar Teil des neuen globalen Umweltprogramms von WOSM für 2020-30 geworden.
Partizipation Praxis und Modelle
Das von Roger Hart und Wolfgang Gernert entwickelte "Stufenmodell der Partizipation" (1993) besteht aus neun Stufen: Drei davon liegen unterhalb der eigentlichen Partizipations-Schwelle (siehe Graphik hier), werden aber oft als Partizipation bezeichnet (wenn z.B. Freiwillige für einen Einsatz gesucht werden ist das zwar nicht in an sich problematisch, nur sollte nicht von Partizipation gesprochen werden). Die nächsten drei Stufen werden als Vor-Partizipation und die folgenden als "echte Partizipation" (d.h. mit Mitentscheidung und Umsetzungsverantwortung) bezeichnet. Bei vor-partizipativen Stufen ist das Ergebnis weitgehend vorgegeben, bei echter Partizipation gilt Ergebnisoffenheit (aber nicht -beliebigkeit). Weiterentwickelt wurde das Modell von den Sozialraumforscherinnen Gaby Straßburger und Judith Rieder, die eine Partizipationspyramide vorschlagen.
Partizipation ist für gesellschaftliche Transformationsprozesse ein Schlüsselelement, wie z. B. beim “Art of Hosting” und dem “U.Lab”. Das erste setzt faszinierenderweise auf Gastfreundschaft bei Planungstreffen und das zweite auf einen Prozess mit offenem Ausgang nach der “Theory U” von Otto Scharmer. Mit dieser Methode arbeitet unter anderem die schottische Regierung, um gewünschte Änderungen in Gemeinden tatsächlich umzusetzen (siehe kurzes Video: 3 Reasons why Scottish government chose for u.lab as a platform for public participation).
Unser Autor
Arbeitet als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz.
Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, arbeitet nun als Humanökologe, Lernspezialist sowie auch Schriftsteller. Neben Kolumnen schreibt er vor allem Gedichte und Aphorismen. Soeben ist sein Gedichtband «Klima Vista – die Schneefallgrenze steigt» erschienen. Darin vereinigt er seine zwei Leidenschaften: Klimaschutz und Poesie. Seine letzten Veröffentlichungen sind «Aussicht von der Einsicht» (Aphorismen, 2018) sowie «Im Rosten viel Neues» (Gedichte, 2016). Mehr unter https://prolyrica.ch/b-b/kuno-roth.