Der Prioritäter
Ein Prioritäter ist einer, der dich auf raffinierte Weise schachmatt setzt. Unter dem Deckmantel der Normalität schlägt er zu, also unspektakulär. Lange merkst du gar nichts, meinst gar, einen Normalitäter vor dir zu haben. Denn es ist ja an sich völlig normal und einsichtig, Prioritäten zu setzen. Jede*r macht das: Mal setzt du sie dir selber, mal bewusst, mal unbewusst, manchmal werden sie dir gesetzt, zum Beispiel dann, wenn dein Kind krank ist, deine Vorgesetzte subito irgend etwas braucht oder dein Computer abstürzt. Solche Dringlichkeiten haben selbstverständlich hohe oder gar höchste Priorität, müssen ohne Verzug geregelt werden. So gesehen sind wir alle Prioritäter*innen.
Aber, und das kennst du sicher auch, zuweilen kommt es vor, dass die Erledigung einer dringlichen Priorität sich im Nachhinein als vertane Zeit erweist. Etwa dann, wenn man sich zu sehr um das gerade Naheliegende gekümmert hat. Anstatt einen Schritt zurückzutreten und das sich Aufdrängende aus etwas Distanz zu betrachten. Doch weil, was nahe ist, stets unaufschiebbar wirkt, nehmen wir uns ihm an. Sei es, wenn der Kollege vor dir steht und um einen Gefallen bittet oder sei es, wenn dein Telefon schellt: Beides hat die Autorität der Dringlichkeit. Scheinbar Dringliches kann sich aufplustern und erscheint als wichtig. Aufgeplustertes als Aufgeplustertes zu erkennen, ist freilich nicht immer einfach. So weit so bekannt.
Bei einer Umweltorganisation stellt sich die Frage der Prioritätensetzung etwas anders. Diese selber hat höchste Priorität bzw. ist die Daueraufgabe schlechthin. Und einfach einzusehen: Müsste zum Beispiel Greenpeace alle Umweltprobleme innert drei Jahren lösen, bräuchte die Organisation Millionen von Mitarbeitenden und Billiarden Kapital. Real steht allerdings kein Zehntel Promille davon zur Verfügung. Weil Greenpeace aber angetreten ist, das eine oder andere Problem bald gelöst zu bekommen, müssen ergo Prioritäten gesetzt werden. Aber wie?
Der thematische Rahmen, in dem die Prioritätensetzung stattfindet, wurde in den Gründungsjahren gesetzt, nämlich durch Festlegung der Hauptthemen. Bei Greenpeace waren dies «Atomenergie» und «Wale und Meere», später erweitert mit «Klima und Energie», «Toxics», «Wald» sowie «Gentechnik», was sich wiederum etwas gewandelt hat. Das heisst, die Themen sind also grob gegeben, müssen aber immer wieder den sich ändernden Umständen mit Blick auf die kommenden zehn Jahren angepasst werden. Die dreijährlichen, jährlichen oder noch kurzfristigeren Entscheide, was ganz konkret getan, sprich priorisiert wird, basieren auf diesen Grundlagen und der Einschätzungen des Umfelds und der angenommenen Entwicklungen.
Dabei müssen dringlich Notwendiges (kurzfristige Erfolge) und langfristig Wichtiges (beispielsweise das Überleben als Organisation oder etwa reale gesellschaftliche Veränderung) in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden. Dabei konkurriert Dringliches naturgemäss längerfristig Wichtiges und kann dazu (ver)führen, dass aufs falsche Pferd gesetzt wird. Mit einem dialektischen Verständnis zwischen Dringlichkeit und Wichtigkeit kann das Dilemma zwar nicht aufgelöst, aber ein besserer Umgang damit gefunden werden.
Zu erkennen und zu entscheiden, ob etwas Dringliches tatsächlich wichtig ist und nicht nur wichtig tut, ist, wie gesagt eine grosse Kunst. Gefährlich wird das Dilemma in mindestens zwei Fällen: Erstens, sich nicht zu entscheiden und sich so zu lähmen oder zu verzetteln: Man tut nichts oder alles (und damit auch nichts). Und zweitens, wenn der Prioritäter zuschlägt. Erkennbar an häufig verwendeten Begriffen wie:
- «Strategisch», wie zum Beispiel: Wir müssen strategisch denken! Oder: Das ist nicht strategisch!
- «Das ist nice to have», was im Klartext heisst: Zwar nett, also sicher nicht.
- «Wir müssen Prioritäten setzen!» und er dabei seine meint.
- «Jetzt oder nie!», «Diese Halunken, denen müssen wir ...» – empörungsgetriebene Dringlichkeit, zum Beispiel daran zu erkennen, dass Abmachungen ohne Weiteres nicht eingehalten werden: Dringlichkeit und Empörung entschuldigt aus der rechthaberischen Prioritäter-Sicht alles.
Das heisst, er setzt sich durch, indem er seine Sache als strategisch (also wichtig) und zur Dringlichkeit der Organisation erklärt. Er hievt sein Thema somit auf eine höhere Ebene und damit ins Recht. Das Schwierige ist, dass dem sehr wohl zuweilen so ist. Die Sache kann in der Tat strategisch wichtig oder eine andere nur «nice to have» sein. Ein Prioritäter meint freilich, Dringliches sei immer auch wichtig.
Der Kampf «gegen das Schlechte auf dieser Welt» ist besonders anfällig dafür, dass Dringlichtuerei die Organisation in Atem hält und damit langfristig Wichtiges behindert oder gar über Bord geworfen wird. Empörung kann blind machen. Und sie macht oft vergessen, dass der «Kampf gegen etwas» Symptombekämpfung ist. Zur Ursachenbekämpfung eignet sich Arbeit mit Lösungen meist besser. Eine Organisation muss beides tun und ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen aufflackernden «Windows of Opportunities» und langfristigen «Real-Change-Prozessen» finden. Dem Prioritäter geht es aber oft nur um seine „Schaufenster“. Der dahinter liegende Laden, das eigentliche Geschäft, kümmert ihn wenig. Er setzt dich umso einfacher schachmatt, je stärker kurzfristige Gelegenheits-Zeitfenster das Kriterium der Prioritätensetzung sind und je stärker die “Wir-sind-besser”-Moral in der Organisation vertreten ist.
Und die Moral der Geschichte? Hinterfrage den Prioritäter. Es ist gut, dass es ihn gibt, doch es gilt, Zügel anzulegen.
Unser Autor
Arbeitet seit drei Jahren als Leiter des globalen Mentoring-Programms bei Greenpeace International. Zuvor war er 25 Jahre lang Bildungsverantwortlicher von Greenpeace Schweiz.
Jahrgang 57, Dr. rer. nat., ehemaliger Chemiker, arbeitet nun als Humanökologe, Lernspezialist sowie auch Schriftsteller. Neben Kolumnen schreibt er vor allem Gedichte und Aphorismen. Seine letzten Veröffentlichungen sind “Im Rosten viel Neues” (Gedichte, 2016) sowie “Aussicht von der Einsicht” (Aphorismen, 2018). Mehr unter https://prolyrica.ch/b-b/kuno-roth.