Die Spaltung der Gesellschaft als Narrativ

Gesellschaft

von Meret Schneider

Kurz nach der Ablehnung der Biodiversitätsinitiative schossen sie wieder wie Pilze aus dem Boden: Analysen, Gegenwartsdiagnosen und das permanent darunter gelegte Lacrimosa der Spaltung der Gesellschaft. Selbstverständlich sind Rekapitulationen und selbstkritische Reflexion der Kampagnen und einer gesellschaftlichen Stimmung nicht nur legitim, sonder auch notwendig und für einen Lernprozess konstituierend, aber wo die Analyse in den liebgewonnenen Fluss der immer gleichen Spaltungsnarrative mündet, lohnt es sich, kurz inne zu halten.

Stadt gegen Land. “Die da oben” gegen “die da unten”. Die Gräben, die aufgezogen werden und medial als tiefer und unüberwindbarer beschrieben werden denn je, die damit einhergehende, abnehmende Diskursbereitschaft und der fehlende Wille zur Verständigung sind aber nicht rein deskriptive Konstrukte, die einen aktuellen Zustand beschreiben, sondern auch selbsterfüllende Prophezeihungen und Imperative an die Lesenden. Wird die Gesellschaft als eine Gespaltene in Stadt- und Landbevölkerung beschrieben, wobei beide gegensätzliche Haltungen vertreten, fühlt sich auch der oder die Lesende gedrängt, sich dem ein oder anderen Lager anzuschliessen. Identifizierst du dich als urban, bist du dafür, kommst du eher vom Land, bist du dagegen und neben dieser aufoktroyierten Haltung nimmst du bitte auch sogleich die rhetorische Hellebarde zur Hand, um diese gegen die bösen Städter oder die hinterwäldlerische Landbevölkerung zu verteidigen. 

Dieses Narrativ verkennt komplett, dass unsere Gesellschaft kein Fussballspiel ist (Papa, sind wir für die Roten oder die Weissen?), sondern wesentlich komplexer und, ja, wesentlich weniger gespalten als in früheren Zeiten. Die Behauptungsprosa der gespaltenen Gesellschaft oder einer Zunahme der Spaltung trifft nämlich auf erstaunlich wenig Evidenz. Im Zuge der Organisation des Grünen Ustertages wird mir das immer wieder vor Augen geführt: 1830 strömten gut 10’000 Menschen auf den Ustermer Zimikerhügel, um gegen die Bevormundung der Landbevölkerung durch die Städter (kein Gendern notwendig) zu demonstrieren - ein ziemlich vertrautes Narrativ. 

Stadt gegen Land, Oberschicht gegen Unterschicht: All diese Konflikte gibt es schon sehr viel länger und sie wurden in der Vergangenheit wesentlich blutiger ausgefochten als heute. Tatsächlich können wir uns heute auf einen so breiten gemeinsamen Nenner besinnen wie historisch selten zuvor: Auf die Staatsform, die Verfassung, die Demokratie. Natürlich immer mit einigen Ausnahmen, aber diese kann man trotz medialer Überrepräsentation als wenig relevant abtun. Auch verkennt die Stadt-Land-Graben Erzählung komplett, dass der grösste Teil der Schweizer Bevölkerung in der Agglomeration lebt und gar nicht zugeordnet werden kann - diese Dichotomie ist ein Relikt aus der Vergangenheit, das wir im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhalts definitiv aufgeben sollten. Die Frage ist, woher kommt das Gefühl einer gesellschaftlichen Spaltung und wenig Verständigung, das auch ich, trotz des Wissens um die fehlende Evidenz dafür, immer wieder spüre? 

Den ganzen Bericht von Meret gibt es auf unserem Linkedin-Profil.

Meret Schneider

Unsere Autorin

Meret Schneider ist Linguistin, Kommunikations- und Umweltwissenschaftlerin und arbeitet als Projektleiterin für das Kampagnenforum. Davor war sie Nationalrätin des Kantons Zürichs, hat als Co-Geschäftsleitung einer NPO die Initiative gegen Massentierhaltung mitinitiiert, die Kampagne begleitet und war in verschiedenen Bereichen der landwirtschaftlichen Praxis tätig. Heute ist sie ausserdem freischaffende Journalistin und schreibt wöchentliche Kolumnen für Moneycab sowie Gastbeiträge für Nau.ch.

Meret Schneider